Pilgerherberge Crostwitz

Putniska hospoda Chrósćicy

23.07.22 Festvortrag Augsburg

“Herberge geben (auch und gerade) in schwierigen Zeiten – am Beispiel des Ökumenischen Pilgerweges”


Zunächst möchte ich mich kurz vorstellen. Ich heisse Monika Gerdes und bin Herbergsmutter in der Pilgerherberge Crostwitz am Ökumenischen Pilgerweg, der sich an der Via regia orientiert. Crostwitz liegt in Sachsen, genauer: in der Oberlausitz – also im östlichsten Zipfel Deutschlands, nahe der polnischen und tschechischen Grenze – man nennt diese Gegend deshalb auch “Dreiländereck”. Beruflich bin ich Hörfunkredakteurin beim Mitteldeutschen Rundfunk. Mein Hobby ist – ausser Herberge zu geben – selber zu pilgern, jedes Jahr im Urlaub. Deshalb kenne ich beide Seiten des Pilgerns recht gut.

 Schon einmal durfte ich im wunderbaren Augsburg Gast sein und Festrednerin der hiesigen Jakobusgemeinde zu ihrer Kirchweih. Vor genau 11 Jahren auf Einladung Ihres damaligen Pfarrers Hubert Ratzinger. Das Thema damals hieß: Die Gastfreundschaft auf dem ökumenischen Pilgerweg. Mit einer zweiten Einladung hatte ich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht gerechnet. Bin aber natürlich gerne zu Ihnen gekommen. Inzwischen hat sich viel in der Welt bewegt und geändert – Tausende neue Pilger hatten den Weg unter den Füßen – es gab und gibt eine Pandemie und einen Angriffskrieg in Europa, und das alles stellt uns Herbergseltern vor neue Fragen und Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund habe ich mir als Thema gestellt: “Herberge geben (auch und gerade) in schwierigen Zeiten – am Beispiel des ökumenischen Pilgerweges”. - Ich gliedere meinen Vortrag in 5 Abschnitte:


1. der Geist des ÖPW

2. schwere Zeiten für Herbergseltern

3. Pilgergeschichten 2022 aus Crostwitz

4. eigene Erfahrungen als Herbergsmutter

5. Gastfreundschaft biblisch verstanden


1.) GEIST DES ÖPW


Gastfreundlich sein – Fremde beherbergen – das ist sowohl in der orientalischen als auch europäischen Kultur, im jüdischen und im christlichen Glauben ein wichtiger ethischer Grundsatz, da gibt es gute Traditionen. Da findet man im Alten und im Neuen Testament Geschichten dazu. Doch in unserem Alltag? Ganz praktisch erfahrbar?

Und genau das ist der Geist, der Kern des ökumenischen Pilgerweges, weswegen er damals, 2003 von einer jungen Frau namens Esther Heise – inzwischen Zeiher – gegründet wurde. Sie war nämlich im Sommer vor ihrem Studium als Backpackerin quer durch Deutschland unterwegs, und klingelte für Übernachtungen einfach so bei Leuten und Kirchgemeinden an der Tür. Was sie da an purer Gastfreundschaft, an Begegnungen, an Vertrauen kennenlernte - diese positiven existenziellen Erfahrungen, die sie dabei machte – das wollte die angehende Religionspädagogin auch anderen Menschen ermöglichen, sozusagen schenken. Lange überlegte sie, wie das wohl anzustellen wäre. Die erleuchtende Idee kam ihr, als sie den Pilgerweg in Spanien nach Santiago de Compostella kennenlernte. Da muss es doch ganz früher mal Zubringerwege auch aus Deutschland gegeben haben! Denn im Mittelalter begann der Weg vor der Haustür. Und richtig – sie fand die Via Regia, die Königsstrasse oder Hohe Strasse, die in Kiew beginnt und von Ost nach West bis nach Spanien am Atlantik führt, die früher die Pilger im Gefolge von Händlern und Soldaten ebenfalls langgezogen sind. Einen Abschnitt davon suchte sie aus. Er ist 460 km lang, führt durch Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bis an die hessische Grenze nach Vacha – und ist nun Teil des Netzes an europäischen Pilgerwegen zum Grab des heiligen Apostels Jakobus. Pilgerwege gibt es viele in Deutschland – mehr als 40 inklusive eines Lutherweges. Aber nur der Ökumenische Pilgerweg ist mit so vielen Herbergen ausgestattet – privaten, von Vereinen, Initiativen oder Kirchgemeinden geführten. Fast so wie in Spanien – nur nicht so überlaufen. Genau in diesen Herbergen sind Begegnungen möglich – der Pilger untereinander – und mit den Herbergseltern.

Damit das so bleibt, und aufgegebene Herbergen durch neue ersetzt werden, für den Erfahrungsaustausch untereinander und die Vernetzung von Herbergseltern in der Region – dafür sorgt ein kleiner Verein, dessen Vorsitzende Esther Zeiher ist. Der Verein wacht darüber, dass der Geist der Gastfreundschaft erhalten bleibt, dass das Pilgern auf dieser Strecke nicht kommerzialisiert wird – also zum Beispiel Busfahrten für “Pilger” entlang des Weges sind no go – der Verein organisiert ein jährliches Herbergselterntreffen am Weg, mit einem geistlichen Impuls. Er gibt die neuen Auflagen des Pilgerführers heraus und hat eine Internetseite. Er heisst wie der Weg: Ökumenischer Pilgerweg e.V.

 Ökumene ist uns wichtig – wir arbeiten konfessionell übergreifend im Verein - und die Herbergen untereinander. Und es kommen sowohl evangelische als auch katholische Pilger (übrigens mehr evangelische), aber auch Menschen die esoterisch, buddhistisch, agnostisch, oder sonstwie unterwegs sind – manche sagen auch “ich brauche Gott nicht, mir fehlt da nichts” – später aber spüre ich meist, dass sie Suchende sind bzw. einfach “anders glaubende”. Das wird respektiert – jeder, der den Weg läuft oder mit dem Rad fährt, ist Pilger. Wer bin ich denn, um zu urteilen oder gar zu wissen, was der Weg mit ihm, mit ihr machen wird? In keinem Fall werden er oder sie als die gleichen Menschen ankommen, als die sie losgelaufen sind.

 Im übrigen sind die Regeln bei uns dieselben wie anderswo: Jeder Pilger hat einen Pilgerausweis, den er abstempeln läßt, was ihn berechtigt für wenig Geld ein Quartier zu bekommen – nach Spendenprinzip, meist 10 Euro pro Nacht und Bett. Wenn doch Pensionen oder Fremdenzimmer einbezogen sind, gewähren sie Pilgern oft Preisnachlass. Wenn sich jemand schon zum Pilgern aufrafft, sollte es auch für weniger gut betuchte Menschen bezahlbar bleiben….

 Also: Herberge zu geben, dem Pilger – lateinisch “Peregrino” – wörtlich: dem Fremden – ist Kern, ist Botschaft, Auftrag, Vision für unseren ökumenischen Pilgerweg.


2.) SCHWERE ZEITEN FÜR HERBERGSELTERN


Gerade unsere Vision betreffend erfuhren wir in den vergangenen beiden Jahren mit Corona, eine ziemliche Ausbremsung.

Als es Kontakverbote und Beherbergungsverbote gab, mussten auch unsere Herbergen zu bleiben. Das war für alle hart.

Desto intensiver setzte der Pilgerstrom ein, als es wieder möglich war zu gehen. So, als in Spanien noch gar nichts ging, konnte man ja immerhin in Deutschland schon eher laufen. Viele stießen erst bei ihrer neuen Recherche auf unseren Weg, der wegen des dichten Herbergsnetzes so beliebt ist. Freilich hatten wir mit dem täglichen Desinfizieren, mit 2G – und 3G-Regeln, dem Testen und Kontaktnachverfolgungen erheblich mehr Arbeit. Das konnten nicht alle Herbergen leisten, einige mussten vorübergehend dicht machen. Unsere Ergänzungsliste im Internet wurde laufend aktualisiert und bot Alternativen an. Auch die unterschiedliche Deutung, Wahrnehmung, Reaktionen auf Corona verlangte den Herbergseltern einiges ab. Es gab auch hitzige Diskussionen, auch Corona-leugner pilgerten, und Einzelne waren nicht bereit, einen tagesaktuellen Test vorzulegen. Wo setzt man dann die Grenze? Bis wohin reicht Toleranz? Nun, die Hygieneregeln mussten schon eingehalten werden, und deshalb gab es zum ersten Mal in den 14 Jahren, die ich persönlich meine Herberge führe, auch einzelne Abweisungen, wenn jemand sich nicht daran halten wollte. Aber als Pilgern wieder uneingeschränkt möglich war – nach so langem Entbehren von Kontakten – wussten Pilger und wir Herbergseltern umso deutlicher, wie wichtig Gastfreundschaft und ihre Begegnungen sind. Gerade in schwierigen Zeiten, zum Verarbeiten der Erlebnisse, liefen nun etliche. Nie vergesse ich die Pilgerin, die mir leise und stockend und mühsam die Tränen unterdrückend berichtete, sie müsse jetzt den Tod ihres geliebten Vaters durch Corona verarbeiten.

Und als sei dies nicht schon Herausforderung genug, kam dann auch noch der 24.Februar 2022. Und mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine ein Strom ukrainischer Flüchtlinge. Ich weiss noch, wie wir im März beim Herbergselterntreffen berieten: Wie werden wir reagieren? Heisst “Herberge geben” jetzt, vorrangig diese Kriegsvertriebenen aufzunehmen? Uns war klar, dass es ein Spagat ist. Diese wie jene brauchen uns – auch die Pilger kommen in solchen Zeiten mit besonders dicken “Seelenrucksäcken” an - diesen wie jenen möchten wir gerne dienen, allen wollten wir nach unseren Kräften helfen. Gleichzeitig wussten wir, dass es bei der Beherbergung von Ukrainern um längere Zeiträume geht – 1, 2 oder 3 Jahre gar. Damit wäre die PILGERherberge als solche geschlossen. So empfahl der Verein den Herbergen, nach eigenem Gewissen zu entscheiden, Übergangslösungen für Notfälle der Ukrainer zu ermöglichen, aber möglichst die Herbergen als solche offen zu halten. Und so war es dann auch. Einige Unterkünfte hatten für mehrere Wochen Ukrainer aufgenommen, und mussten Pilger abweisen – bis die Ukrainer richtige Wohnungen bekamen. Bei mir in Crostwitz haben wir eine andere Lösung gefunden. Ein sowohl als auch. Ich habe von der Kirchgemeinde eine große leerstehende Pfarrwohnung erbeten und erhalten, und einen Helferkreis gegründet. Wir haben es geschafft, die 5-Zimmer-Wohnung innerhalb von 4 Wochen zu malern und mit geschenkten Möbeln und Küchengeräten einzurichten. Innerhalb von Tagen wies uns der Landkreis eine junge Familie mit sieben Kindern zu. Seit Mai wohnen sie nun in Crostwitz und werden von uns betreut. Es ist eine wunderbare Familie, die Kinder gehen hier zur Schule, der Familienvater hat Arbeit gefunden. Sie sind so dankbar - es hat sich zwischen Herberge, gemeindlichem Helferkreis und ukrainischer Familie eine regelrechte Freundschaft entwickelt. Das ist für mich persönlich eine andere Form von “Herberge geben in schwierigen Zeiten” – und es tut uns allen im Kreis so gut, etwas Persönliches unternehmen zu können gegen diesen verdammten Krieg! Es hat mich von meinen Ohnmachtsgefühlen befreit.


3.) PILGERGESCHICHTEN AUS CROSTWITZ


Meine rein private Herberge, zunächst gemeinsam mit meinem Mann geführt, gibt es seit 2008. Wir haben sie eröffnet, um die von mir beim Pilgern erfahrene Gastfreundschaft des Weges weiterzugeben, und aus Dank. Als mein Mann ein Jahr danach starb, war die Herberge sein bestes Erbe und Vermächtnis an mich. So um die 4000 Übernachtungsgäste habe ich seitdem beherbergt. Einige Beispiele aus diesem Jahr können Ihnen wahrscheinlich am besten zeigen, wer so herkommt, was Herberge geben in der Praxis heisst.

 Zwei Pilger sind sehr jung, 14 und 15 Jahre, Cousins. Die Eltern haben sie angemeldet. Sie laufen nur wenige Tage – Ziel ist die Feier der Jugendweihe von einem der beiden, die in der Nähe stattfindet – der andere hatte schon seine Konfirmation. Beide bereiten sich zum Abend in der Pilgerküche selber Eierkuchen zu. Einer erzählt dabei, dass er wegen Corona ein Jahr lang praktisch keine Schule hatte, nur online-Unterricht daheim. Der andere ist gerade mit den Eltern umgezogen und hat sich deshalb, und auch wegen Corona, entschieden, ein Schuljahr zu wiederholen. Sie sind pfiffig und scheinen mit der Lage klarzukommen.

 

Eine Buchhändlerin schleppt dagegen einen schweren Seelen-Rucksack mit. Sie ist geschieden, alleinerziehend mit einem Sohn und einer Tochter. Ihr Ex-Mann beging in der Phase tiefer Depressionen wahrscheinlich Suizid, geklärt ist es nicht. Er verschwand kurz vor seiner Entlassung aus der Klinik und kurz vor der Konfirmation seiner Tochter, wurde aber erst Wochen später tot aufgefunden. Sie pilgert, um einiges davon zu verarbeiten. Am Abend erlebe ich sie als fröhlich und lebendig, erst beim Frühstück öffnet sie sich und es fliessen heilsame Tränen. Sie sagt, das tue ihr gut – lange schon konnte sie nicht mehr weinen, alle erleben sie nur als willensstark.


Ein katholischer Seelsorger nimmt den Weg sportlich – 30 km eine Etappe – er ist an einem Tag so viel gelaufen wie andere in zwei Tagen. Abends beim Gespräch stellt sich heraus, dass wir sehr unterschiedliche Meinungen zum Ukrainekrieg haben (es ist April, der 57.Kriegstag). Er glaubt: Selenskyj hätte eine andere Wahl gehabt, er hätte gleich zu Beginn die weisse Fahne raushängen lassen können und damit seinem Volk viel Leid erspart. Ich gebe ihm vorsichtig zu verstehen, dass sich meiner Meinung nach ein angegriffenes Volk sehr wohl verteidigen darf.


Es kommen zwei Freunde, beide Rentner, einer wal mal Bauingenieur – der andere Beamter im Umweltbereich. Es ist gerade einen Tag bevor “unsere” Ukrainer ihre Wohnung in Crostwitz beziehen werden, wir erzählen natürlich davon. Die beiden überraschen uns vor ihrem Weiterziehen damit, dass sie spontan jeder eine Spende von 100 Euro für diese Flüchtlinge da lassen! Sie sagen: “Wir werden davon nicht arm. Wir müssen trotzdem nicht unter der Brücke schlafen.” Wunderbar. Es ist genau die Summe, die uns für die gebrauchte Waschmaschine noch fehlte.


Eine Pilgerin aus München beeindruckt mich total. Sie hat Theologie studiert, war Religionslehrerin, und hat dann zwei Kinder aus Indien adoptiert. Der jüngere - inzwischen 30 – ist behindert, lebt dennoch selbständig und arbeitet in einer Werkstatt. Er hat eine seltene Krankheit, die nur in Asien vorkommt, erzählt seine Mutter – sie sei nun Spezialistin für Krankenhäuser.


Manchmal passieren so wunderbare Geschichten wie jene des Paares, das sich hier in der Gegend vor 40 Jahren bei der Studentenwallfahrt kennengelernt hat, was sie mit diesem Pilgern feiern wollen. Hinter ihnen kam (4 km vor Crostwitz) eine leere Hochzeitskutsche gefahren, auf dem Rückweg vom Fest, und der Kutscher nahm sie das letzte Teilstück mit!


Öfter laufen Verwandte gemeinsam, um mal Zeit füreinander zu haben, wie in diesem Jahr eine Mutter mit ihrer erwachsenen Tochter. Die Tochter ist Sonderschulpädagogin und pilgert regelmäßig einmal im Jahr mit der Mutter. Weil das für sie die absolute Freiheit sei: sich mal um nichts weiter kümmern zu müssen als – essen, trinken, schlafen. Die Sorgen bleiben daheim. Nur mit dem auskommen, was im Rucksack ist. So schildert sie ihr Pilgermotiv, und die Mutter – Altenpflegerin im Ruhestand - fügt hinzu: Sie habe schon zusätzlich einen Opfergedanken. “Mir fällt das Laufen schon etwas schwer. Und man sollte im Leben was opfern.” Und Pilgern sei dass, was sie schaffen könne. Beide haben das Handy tagsüber ausgeschaltet.

 Eine etwa 45-jährige Einzelpilgerin läuft, obwohl sie multiple Sklerose hat – oder: gerade deshalb. Sie war Krankenschwester, ist jetzt invalidisiert. Man sieht ihr die Krankheit nicht an- sie sieht blendend aus. Sie könne gerade jetzt Pilgern, sie habe ja nun Zeit. Sie tut es, um etwas ganz für sich allein zu haben, zu sich selbst zu kommen. Ihre Familie unterstützt sie dabei, auch ihre beiden Kinder, die studieren. Manchen Menschen mag sie überhaupt nicht von ihrer Krankheit erzählen, denn die sind dann so schockiert – dass sie sie trösten muss: “Es geht mir gut”, sagt sie dann. Und das stimme ja im Prinzip: es gebe gute Medikamente inzwischen, “Heute stirbt man nicht mehr daran.” Sie strahlt Optimismus aus und läßt sich nicht unterkriegen.

 Ein zierliches 20-jähriges Mädchen macht ihre Tischlerlehre, und schleppt einen Riesenrucksack: sie hat ihn nicht gewogen. Ich stelle ihn auf die Waage: 27 Kilogramm! Ich konnte ihn zuerst nicht anheben. Sie klagt nicht, hat damit 15 Kilometer in viereinhalb Stunden geschafft – sie ist zäh. Dennoch – so schafft sie es nicht noch weitere 5 Tage. 10 Kilo sind normal. Wir sortieren gemeinsam 7 Kilo raus, die werden zurückgeschickt. Sie war mal Pfadfinderin, hat ein Zelt dabei. Sie bedankt sich bei mir für diese “Lektion”. Sie ist absoluter Pilgerneuling.

Dagegen ist die 50-jährige Töpferin ein “alter Hase”. War schon in Santiago de Compostela und wandert auch sonst sehr gern. Ihre Augen leuchten. Ihr gefällt es, beim Pilgern alles bewußter und intensiver zu erleben.


Ein junges Paar kommt, es stellt sich heraus dass die Frau eigentlich Australierin ist und seit 5 Jahren in Deutschland lebt, wo sie als Sozialassistentin in einer Kinderkrippe arbeitet. Der Freund ist Maschinenbauingenieur. Beide laufen andersrum – von West nach Ost. Ihr Ziel ist vor Görlitz eine Gemeinderüstzeit mit Lobpreis, Bibellesen und Lagerfeuer, sie gehören einer freikirchlichen Gemeinde an.


Und da war noch vor wenigen Tagen dieses Ehepaar aus Berlin, wo die Frau aus Kirgisien stammt. Im Alter von 16 Jahren kam sie mit den Eltern nach Deutschland, als deutschstämmige Aussiedler, gemobbt und ausgegrenzt daheim wegen ihres Andersseins, aber auch wegen ihres christlichen Glaubens. Alles, was jetzt in der Ukraine passiert, geht ihr unheimlich nahe, sie fühlt und leidet mit den Menschen, sie hat ähnliches erlebt – jedenfalls das Trauma der Flucht. Tränen stehen ihr in den Augen. Beim Bericht über “unsere” ukrainische Familie fühlt sie sich etwas getröstet.


Die Beispiele zeigen: Es sind sehr unterschiedliche Menschen, die sich auf den Weg machen, die wir beherbergen. Gerade in diesen schwierigen Zeiten ist das Bedürfnis groß, aus der Tretmühle des Alltags auszusteigen, in Ruhe innezuhalten und ein Gegengewicht gegen die allgegenwärtige Krisenstimmung zu finden, sozusagen einen Anker der Hoffnung. Hier als Gastgeber etwas Zeit zu finden zum ruhigen Zuhören, - ohne das Gehörte gleich irgendwie zu werten! - ist für die meisten Pilger ein wertvolles Geschenk.


4. ERFAHRUNGEN ALS HERBERGSMUTTER


Dass es andererseits manchmal nicht so leicht ist, immer für seine Pilgergäste da zu sein – abends, nach der Arbeit, können Sie sich vorstellen. Und dann muss ich auch meine Kräfte realistisch einschätzen, und es mal kürzer machen. Wir haben im Verein einen “Seelsorge-Leitfaden für Herbergseltern” dahingehend entwickelt und zur Verfügung gestellt.

Dennoch: Wenn ich als Herbergsmutter an der Tür den Gast in Empfang nehme, einlasse, für ihn oder sie sorge – werde ich mit Erfahrungen beschenkt. Was bedeutet Herberge geben also von dieser Warte aus?

 Als Herbergseltern werden wir ständig neu gefordert. Wir haben nicht bloß unser Haus geöffnet – wir haben auch richtig Arbeit mit der Herberge. Wir gehen auf die verschiedenen besonderen Situationen der Pilger ein – von dem, der bloß Ruhe sucht, bis zu dem der dringend jemanden zum Reden braucht – oder einen Rat zur Blasenbehandlung – oder zur nächsten Herberge. Manchmal ist unser Organisationstalent gefragt. Wenn jemand erkrankt, zum Beispiel. Oder abbrechen muß. Doch wir lernen ja dabei!

 Wir werden flexibler. Kein Pilger gleicht dem anderen. Es gibt sie vom blutigen Neuling bis zum vielgepilgerten Spanienerfahrenen, der nur noch den Osten neu erkunden will. Langsam meistern wir diese Situationen – die Gastfreundschaft schenkt uns Erfahrung und Improvisationstalent.

 Wir lernen loszulassen. Bei jedem Pilger ein bißchen von unserer Zeit – und weg ist sie. Wir haben sie verschenkt. Wir lassen auch Ängste los: vor dem Fremden, der da kommt und uns vielleicht etwas wegnehmen könnte

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Im Gegenteil:von den allermeisten Pilgern werden wir beschenkt. Mit ihrer Erfahrung, ihren Geschichten, mit Impulsen für das eigene Leben, mit ihrem Dank. Ja, sogar Gastgeschenke (winzige, tragbare, besondere – zum Beispiel einen Pin, eine Postkarte, einen gefalteten Papier-Engel) lassen Einzelne da. Senden nach der geglückten Ankunft eine Postkarte oder eine Mail. Manchmal entstehen Freundschaften. Bei so manchen Problemen unserer Gäste mögen wir denken: wie klein ist dagegen meine Sorge – so vieles relativiert sich.

 Und – wir werden gelassener. Schließlich ist der Aufenthalt eines Pilgers auf eine Nacht begrenzt. Wenn er uns ausnahmsweise mal nervt – wir üben uns in Geduld – sind ihn ja morgen schon wieder "los". Und andersherum – wir wissen: was wir an Not oder Orientierungssuche erfahren – können nicht WIR lösen. Das können wir nur einem Größeren als uns anvertrauen. In der Gewißheit, daß ER mit dem Pilger weiter auf dem Weg bleibt – dem Jakobsweg wie dem Lebensweg. Das können wir meistens nur im Gebet an IHN weitergeben, abgeben.


5. HERBERGE GEBEN – BIBLISCH VERSTANDEN


Warum sollte es uns als Christen ein Bedürfnis sein, Herberge zu geben?Auch und gerade in schwierigen Zeiten? Es gibt dazu zwei Bibelworte, die mir persönlich und auch uns im Verein Ökumenischer Pilgerweg wichtig sind :


1. Gastfreundschaft bringt uns in die direkteste Verbindung zu Jesus, die man sich vorstellen kann....Denn Herberge zu geben ist einer der Wege, folgendes Jesuswort zu erfüllen:so heißt es bei Matthäus, Kapitel 25, Verse 35 und 40:

"Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. (...) Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." Oder anders gesagt: Wer den fremden Pilger aufnimmt, nimmt Jesus selber auf.


2. Die Emmausgeschichte

Sie ist ein wunderbares Bild auch für die Gastfreundschaft und was diese bewirkt. Zunächst sind sie gemeinsam unterwegs – die beiden traurigen Jünger und Jesus. Die Jünger sind zunächst wie Pilger, doch indem sie den (noch nicht erkannten) Jesus mit ins Gasthaus zum Abendessen einladen, werden sie zu Gastgebern. Sie sind also beides. Sie verbinden mit der Einladung eine große Hoffnung, die der gemeinsame Weg und das Gespräch unterwegs geweckt haben. Die Hoffnung wird erfüllt!

 Indem die Gastfreundschaft zum Teilen und Brechen des Brotes führt – genau in diesem Moment – werden den Emmausjüngern die Augen geöffnet. Dass sie es mit Jesus zu tun haben. Dass er lebt. Da passiert Wandlung. Und es wird nicht nur das einfache Brot in Brot des Lebens verwandelt – sondern ihr ganzes Leben. Es erhält eine neue Richtung. Zaghaftigkeit, Trauer, Depression werden verwandelt in neuen Mut. Und sie kehren um – allen wollen sie die neugewonnene Freude verkünden.

 So – glaube ich – verwandelt auch uns gelebte Gastfreundschaft, egal ob Pilger oder Herbergseltern – sie verwandelt unser Herz. Im Unterschied zu der Emmausgeschichte meist sanft, unmerklich fast – aber beständig….


In der Bibel heisst es auch: Ihr sollt ein Segen sein für die Menschen. In meiner Herberge erteile ich jenen Pilgern, die es möchten – und das sind 99,9 Prozent – vor ihrem Weitergehen einen Reisesegen. Erlauben Sie mir, für Sie, die hier versammelten Pilger und Gäste, auch diesen Segen zu sprechen – der auf den heiligen Patrick aus Irland zurückgehen soll:


SEGEN („Der Herr sei vor Dir, um Dir den rechten Weg zu zeigen...“)


Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


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